Sozialwissenschaften
Während die meisten Befragten [1] mit dem Stichwort Erste Hilfe „etwas mit Medizin“ verbanden, ist innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Erste Hilfe das erste Fachgebiet historisch die Sozialwissenschaft. Die Numerierung der Fachgebiete spiegelt nicht die Wertigkeit der jeweiligen Disziplin wider, ohne sozialwissenschaftliche Grundlagen und Erkenntnisse kommt die Erste Hilfe aber nicht aus.
Der Mensch ist einerseits Individuum, andererseits gehört er der Gruppe „Menschen“ an. Vollkommen isoliert kann der Mensch nicht (lange) (über-) leben, ist er doch angewiesen auf die vielfältigsten Unterstützungsleistungen: Versorgung mit Nahrungsmitteln, sauberem Wasser, Energie – und nicht zuletzt den Austausch mit Mitmenschen.
〉〉 Ein glückliches und erfülltes Leben ist nur in Gesellschaft anderer Menschen möglich.
Warum helfen manche Menschen anderen Menschen schneller oder überhaupt und andere erst später oder gar nicht? Gibt es „schlechte“ Menschen und gute bzw. bessere? Dies sind nur zwei von mehr als hundert Fragen, die uns beschäftigen. Die Altruismusforschung [2] war ab den 1960er Jahren ein viel beachtetes sozialwissenschaftliches Gebiet mit grundlegender Feldforschung. Diese wurde jedoch zum größten Teil durch US-amerikanische Forscher in der Bevölkerung der USA durchgeführt [3,4,5]. Unter den Forschungsprojekten fanden sich selbst für wissenschaftliche Laien spannende, aber auch kontrovers diskutierte Studiendesigns (siehe Milgram Experiment (1961)).
Die Diffusion der Verantwortung, also das Phänomen, dass eine große Anzahl von Zeugen eines Notfalls gerade nicht zu einer schnelleren Intervention führt, wurde beschrieben und – noch wichtiger – Maßnahmen zur Unterdrückung seiner Auswirkung. Vereinfacht ausgedrückt ist es bereits allein die Kenntnis des Phänomens, die ein informiertes Individuum anders handeln, also schneller eingreifen, lässt. Die Forschungsergebnisse hätten konsequenterweise in einer Handlungsempfehlung für Medien dienen können (die journalistische Freiheit wäre nicht beschnitten worden), um über die Verantwortungsdiffusion aufzuklären, beispielsweise im Kontext mit aktuellen Ereignissen. Selbst im Jahr 2025 ist es aber leider immer noch so, dass vorrangig negative Schlagzeilen und Berichte überwiegen [siehe auch 6]. In der Bevölkerung muss sich zwangsläufig die Überzeugung festsetzen, im Notfalll würde nicht nur nicht geholfen, sondern zusätzlich gegafft und das Leid der Opfer regelmäßig digital aufgezeichnet und in den sog. sozialen Medien veröffentlicht. Entsprechende Stellungnahmen von Rettungskräften anlässlich von Einzelfällen verfestigen diesen Eindruck. Systematische, der guten wissenschaftlichen Praxis folgende Forschung zu diesem Thema? Gibt es nicht.
Wir wollen herausfinden, wie helfendes Verhalten und die Motivation zur Hilfeleistung in der heutigen Zeit verankert sind, da wir von einer menschlichen Grundeigenschaft („der Mensch ist hilfsbereit“) ausgehen. Unsere Forschung ist ergebnisoffen und dient der Verbesserung der Situation, unabhängig vom Ausgangspunkt.
Verändert sich helfendes Verhalten bei Änderung individueller oder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen? Gibt es sozio-kulturelle oder ethnische Unterschiede beim Hilfeleistungsverhalten?
Wir haben tausend Fragen. Es ist an der Zeit für die Suche nach Antworten!
[1] Ad-hoc-Befragung von 150 Passanten in der Münchener Fußgängerzone (Deutsche Gesellschaft für Erste Hilfe, Kammer F, 1995)
[2] Altruismus: Selbstlose Denk- und Handlungsweise; Uneigennützigkeit (Duden, duden.de, 2025)
[3] Piliavin IM, Rodin J, Piliavin JA. Good samaritanism: an underground phenomenon? Journal of Personality and Social Psychology 1969:13(4)289
[4] Latané B, Darley JM. The unresponsive bystander: Why doesn’t he help? Appleton Century Crofts, New York, NY 1970
[5] Latané B, Nida S. Ten years of research on group size and helping. Psychological Bulletin 1981:89,308-324
[6] Schwind HD, Roitsch K, Gielen B, Gretenkordt M. Alle gaffen … keiner hilft. Hüthig Verlag, Heidelberg, 1998.